Der Einfluss von Industrie 4.0 auf den Einkauf - Drei Thesen für die Zukunft

Die Digitalisierung erreicht auch die Industrie und betrifft fast jede Branche. Die Frage ist dabei weniger, ob man diese Entwicklung nachvollziehen will, sondern wie man als Unternehmen damit richtig umgeht. Denn wie jedes neue Phänomen birgt der digitale Wandel Chancen und Risiken für Unternehmen.

Auch wenn heute in den meisten Produktionsanlagen noch Menschen arbeiten, die technologisch anspruchsvolle Maschinen bedienen, so wird sich dies in Zukunft ändern, und die Maschinen selbst werden die „körperliche Arbeit“ sowie einen Teil der Denkarbeit übernehmen. 
Diese Zukunft hin zu einer Produktion, in der intelligente Objekte agieren und digitale Echtzeitinformationen verwerten, um sich selbst zu organisieren, wird häufig unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ zusammengefasst. Für Unternehmen ermöglicht dies, Kundenwünsche noch individueller bedienen zu können.

Was diese Entwicklung für den Einkauf 4.0 bedeutet, greifen die folgenden drei Thesen auf und stellen sie zur Diskussion.

1. These: Der Einkäufer von morgen benötigt einen ‚Data-Science‘-Hintergrund

In einer Umgebung, die von Datenströmen bestimmt ist, entsteht ein Wettbewerbsvorteil dort, wo diese Flut an Informationen schneller und effizienter aufbereitet und interpretiert werden kann als beim Wettbewerb. Dies gilt auch für den Einkauf. So wird es in Zukunft nicht mehr möglich sein, mit Stift, Taschenrechner und grundlegenden Excel-Kenntnissen, aus „Big Data“ Entscheidungsvorlagen zu entwickeln. Deshalb müssen die Unternehmen die Anforderungsprofile an Ihre Mitarbeiter im Einkauf anpassen. Schulungen zur Datenauswertung werden ebenso wichtig sein wie die Themen Datenkontrolle und -sicherheit. Neben der Datenexpertise wird es für erfolgreiche Einkaufsteams auch weiterhin darauf ankommen, die Kommunikation der Daten zielgerichtet zu steuern und eine strategie- konforme Ausrichtung zu verfolgen.

2. These: Der Einkäufer muss weniger einkaufen

Bestellungen des Einkaufs per Telefon und per Mausklick sind auch heute noch üblich – sowohl im direkten als auch häufig im indirekten Einkauf. Mit der Vernetzung von Objekten und der damit einhergehenden Schaffung von sich (teilweise) selbst steuernden Systemen wird auch der Einkauf in Zukunft zumindest (teil)automatisiert. Kennt beispielsweise die Maschine den aktuell verfügbaren  Bestand an Produktionsmaterial, die Verfügbarkeit des Materials beim Lieferanten sowie das Absatzverhalten des Endprodukts, so kann sie eigenständig entscheiden, wann wie viel nachbestellt werden muss. Auf Grund des kontinuierlichen Stroms an Daten muss der Einkauf zukünftig direktes Material nicht mehr selbst bestellen, sondern lediglich überwachen, dass alle Einkaufsdaten korrekt eingespeist und verarbeitet werden. 
Die Möglichkeit, manuell in Prozesse einzugreifen, sollte hierbei zu jeder Zeit gegeben sein.  Ebenfalls unerlässlich ist der Einkauf dann, wenn die Realität für das eingesetzte System zu komplex ist. So kann beispielsweise im Falle eines politischen Konflikts eine wichtige Handelsroute unpassierbar werden, so dass Liefertermine nicht eingehalten werden können und damit ein Produktionsstopp droht. Die richtige Reaktion auf ein solches Ereignis erfordert auch in Zukunft menschliche Denkarbeit. Betrachtet man die Produktionsseite, so ist beispielsweise nicht absehbar, ob und wann eine Maschine in der Lage sein wird, Glanz und Reflexion von Oberflächen sicher einschätzen zu können. Solange dies nicht gewährleistet werden kann, wird menschliche Arbeit in etlichen Produktionsprozessen unerlässlich bleiben.

3. These: Der strategische Einkaufsprozess wird zur Mensch-Maschine-Kooperation

Entlang des traditionellen strategischen Einkaufsprozesses werden sich durch die Änderungen der industriellen Produktion einige Schritte grundlegend wandeln. 
Bereits die Bedarfsanalyse („Wer kauft was von wem zu welchem Preis in welcher Menge wann ein?“) kann auf Basis von Echtzeitdaten (teil)automatisiert ablaufen. So weiß – eine entsprechende digitale Vernetzung vorausgesetzt – bereits die herstellende Maschine beim Lieferanten, welche Spezifikationen das erstellte (Vor-)produkt charakterisieren – diese Daten werden beim Wareneingang des Herstellers automatisch mit den geforderten Spezifikationen abgeglichen. Nach dem Abgleich gelangt das (Vor-)Produkt direkt in die Produktion und wird weiterverarbeitet. 
Die Maschine des Herstellers erweitert die Spezifikationen kontinuierlich, errechnet eigenständig und in Echtzeit die Herstellkosten und meldet potentielle Probleme an das System. Analog der „Push-Funktion“  im Smartphone werden je nach Problemart  Einkaufsleiter, Produktionsleiter und ausgewählte weitere Mitarbeiter direkt über die Situation informiert. Über mobile Endgeräte kann ein Produktionsleiter gleichzeitig mehrere Produktionsanlagen auf unterschiedlichen Kontinenten aktiv managen, ohne unmittelbar an der Maschine stehen zu müssen.
Im Rahmen von Testings zur Lieferantenqualifizierung wird es nicht mehr genügen, dass ein Lieferant die benötigten Artikel in definierter Qualität termingerecht bereitstellen kann. Neu hinzu kommt die Fähigkeit des Lieferanten, sich optimal in bestehende Cyber-Physische Systeme (CPS) der Supply Chain einbinden zu können. 
Achtet der Einkauf heutzutage in vielen Unternehmen häufig nur auf die Preis- und Leistungskomponente (bezogen auf das beschaffte Produkt) bei der Bewertung von Lieferanten, so wird in Zukunft auch die Fähigkeit zur Vernetzung von Prozessen und Ressourcen hinzukommen. 
Andere Bereiche des strategischen Einkaufsprozesses werden hingegen voraussichtlich weniger Veränderung erleben. Die Einkaufsmarktanalyse wird weiterhin ein strategisches Kerngebiet des Einkaufs bleiben, wobei die Leistungsfähigkeit der gesamten Supply Chain noch stärker in den Mittelpunkt rücken wird als die einfache Hersteller-/Lieferant-Beziehung. Die Beobachtung von Markt-entwicklungen und technologischen Innovationen sowie die Durchführung von Verhandlungen mit Lieferanten werden ebenfalls weiterhin im Mittelpunkt des strategischen Einkaufs stehen und einen Großteil der Zeit der strategischen Einkäufer in Anspruch nehmen. Daten und Tools werden die Arbeit der Einkäufer noch stärker unterstützen, jedoch nicht vollständig ersetzen.

Fazit

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im Zuge von Industrie 4.0 vor allem kurzfristige Entscheidungen im Produktionsplan durch intelligente, vernetzte Maschinen getroffen werden.  Langfristige strategische Entscheidungen werden weiterhin von Menschen im Unternehmen getroffen. Dabei ist zu betonen, dass in naher Zukunft zunächst keine großen Sprünge zu erwarten sind, da in vielen Unternehmen bisher keine unmittelbare Notwendigkeit zum Wandel wahrgenommen wird. Beschleunigt sich der Wandel jedoch an einem Punkt, werden die Unternehmen im Wettbewerb nicht mehr viel Zeit haben, sich auf die „neue Welt“ einzustellen. Der Einkauf kann die Entwicklung der Industrie 4.0 bereits heute positiv beeinflussen, indem er sich aktiv mit den Zielen und Visionen der Produktionsabteilung auseinandersetzt, diese an die (strategischen) Lieferanten weiterträgt und anschließend gemeinsam an Lösungen gearbeitet wird.

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