Industrialisierung: Wie Sie den strategischen Einkaufsprozess durch Reorganisation zur Höchstleistung bringen

Die technologischen, methodischen und prozessbezogenen Entwicklungen im Einkauf der letzten 20 Jahre haben eine starke Weiterentwicklung in allen drei Einkaufsbereichen ausgelöst, die geprägt ist von richtungsgebenden Veränderungen wie „strategic sourcing“ oder „eProcurement“. Im Kontext dieser bemerkenswerten Entwicklungen fällt auf, dass die Organisation des Einkaufs seit Einführung des Lead-Buyer-Modells in vielen Unternehmen kaum strukturell verändert wurde. Und das, obwohl die Rolle des Einkaufs in einer Welt voller komplexer Wertschöpfungsketten in vielen Unternehmen an Bedeutung gewonnen hat und weiter dazugewinnt.

Die meisten Diskussionen zu organisatorischen Themen einer Einkaufsabteilung betreffen nach wie vor Fragen zum optimalen Zentralisierungsgrad des Einkaufs 4.0. Hier den richtigen Weg einzuschlagen, d.h. den Anforderungen nach Standardisierung und Volumenbündelung auf der einen und der Nähe zu Einkaufsmärkten und Kunden auf der anderen Seite gerecht zu werden, ist bereits eine zentrale Herausforderung für Unternehmen. Zu Höchstleistungen wird die Beantwortung der wichtigen Zentralisierungsfrage alleine jedoch noch nicht führen. Dafür müssen vielmehr alle organisatorischen Stellschrauben perfekt eingestellt sein, und alles muss „in die gleiche Richtung laufen“. Entsprechend geht dieser Artikel auf die Frage ein, wie auch bereits weit entwickelte Einkaufsorganisationen (neue) Höchstleistungen erreichen können.

1. Schrittweise Veränderungen helfen in den täglichen Einkaufsprozessen

Der typische Erneuerungszyklus einer Einkaufsorganisation beginnt mit der Aufteilung des Einkaufsvolumens nach Warengruppen, die heute nahezu alle Unternehmen eingeführt haben. Es folgt eine Trennung in strategische und operative Aufgaben, die ebenfalls von den meisten Unternehmen vorgenommen wurde. Hier bestehen jedoch große Unterschiede in der Konsequenz der Abgrenzung von strategischem und operativem Einkauf. Bei größeren Unternehmen kommt häufig eine organisatorische Unterteilung nach geographischen Sourcing-Regionen (z.B. Europa, Nordamerika, Asien) sowie gegebenenfalls nach internen Kunden und externen Lieferanten hinzu. Als bisher letzten Schritt entscheiden sich große Konzerne oftmals für das Outsourcing einzelner Einkaufsaktivitäten oder Warengruppen an spezialisierte Dienstleister, um ohne hohen internen Aufwand weitere Einsparungen und/oder Prozesskostenvorteile zu realisieren. 

Eine mehr oder weniger fundierte Messung von Einkaufserfolgen über eigene oder zugekaufte IT-Lösungen zur Aufzeichnung des Wertbeitrags des Einkaufs zum Unternehmenserfolg komplettiert das Bild.

Bezogen auf die Einkaufsorganisation hat das Abwägen der Vor- und Nachteile verschiedener Modelle für die meisten produzierenden Unternehmen dazu geführt, die Vorteile von Volumenbündelung und Standardisierung soweit wie möglich auszureizen, um im Einkauf maximale Effektivität und Effizienz zu erreichen. Die folgerichtige Einführung einer zentralen Organisation oder eines Mischmodells mit einem starken Zentraleinkauf (z.B. bei Shared Services) ist in der Regel bereits der erste Schritt hin zu einem industrialisierten Einkauf.

Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf Rollenverständnis und Arbeitsweise der verschiedenen strategischen Einkäufer im Unternehmen. Sie setzen  strategische Vorgaben gemäß den übergeordneten Einkaufszielen und -strategien um und „durchlaufen“ den strategischen Einkaufsprozess für die von ihnen verantworteten Warengruppen. Außerdem stellen sie die Verbindung zum operativen Einkauf her und geben den Rahmen vor, in dem der operative Einkauf agieren kann. Diese Aufgabenvielfalt führt zu besonderen Anforderungen an die Person des strategischen Einkäufers. 

Vielen strategischen Einkäufern fällt es in der Praxis eher schwer, die heterogenen Aufgabenpakete zu handhaben, da sie meist einzelne Abschnitte des strategischen Einkaufsprozesses besser beherrschen als andere. Hinzu kommen kontinuierlich steigende Anforderungen an ihre Managementfähigkeiten, da der Einkauf in vielen Bereichen (z.B. bei Neuproduktentwicklungen) mittlerweile deutlich früher eingebunden wird als noch vor einigen Jahren („early involvement“) und dadurch viel funktionsübergreifende Zusammenarbeit entsteht. Beim Abgleich dieser Anforderungen mit den realen Fähigkeiten vieler strategischer Einkäufer wird häufig eine große Lücke sichtbar. Das ist die Schwachstelle vieler Einkaufsorganisationen. In der Praxis hat beispielsweise ein strategischer Einkäufer fundiertes Produktwissen, gleichzeitig fehlt ihm jedoch die Fähigkeit, auf Basis von Marktforschungsunterlagen wichtige Trends und neue potentielle Lieferanten zu erkennen. Ein Anderer wiederrum mag ein ausgeprägtes Talent für Zahlen haben und kann entsprechend komplexe Auswertungen in kurzer Zeit durchführen. Über die Fähigkeit, geschickt Einkaufskonditionen zu verhandeln oder Projekte innerhalb der Organisation voranzutreiben, verfügt er jedoch nicht. Praktische Beispiele für dieses Dilemma finden sich in jedem Unternehmen. 

So hat z.B. ein strategischer Einkäufer für Werkzeuge eines Zulieferers der Automobilindustrie bei seiner Lieferantenauswahlentscheidung für wichtige, im Produktionsprozess benötigte Werkzeuge, das größte Volumen über Jahre an denselben Lieferanten vergeben. Nach Rückfrage, ob sich diese langjährige Partnerschaft auch in sehr guten Einkaufskonditionen widerspiegelt, konnte er keine Einschätzung abgeben, da Vergleichspreise (Benchmarks) fehlten. Der Grund für diesen offensichtlichen „Anfängerfehler“ eines fehlenden Preisbenchmarks lag letztendlich daran, dass das eigene, äußerst fundierte Produktwissen dazu führte, bei dem Key-Account Manager des Lieferanten allein auf fundiertes Produktwissen zu achten. Dass andere Lieferanten bei gleicher Qualität der Werkzeuge einen deutlich besseren Preis hätten anbieten können, wurde nicht berücksichtigt. 

2. Fehler in den Abläufen und Schwächen in der Analyse überwinden 

Das oben genannte Beispiel findet sich in vielen Unternehmen, lediglich die Ausprägungen unterscheiden sich. Während in einigen Fällen das Spannungsfeld zwischen einkaufendem Unternehmen und Lieferant durch „ bewährte, jahrelange Zusammenarbeit“ nicht mehr stimmig ist, sorgt in anderen Fällen fehlendes IT-Verständnis für Effizienzverluste, und bei wieder anderen mangelt es an zielgerichteter Zusammenarbeit des Einkaufs mit den Fachabteilungen. In unserer Praxis stellen wir zudem häufig fest, dass die Analyse von Daten in vielen Einkaufsabteilungen eine große Schwachstelle bildet. Das führt unmittelbar dazu, dass viele strategische Einkäufer die Anforderungen der Einkaufsorganisation nicht sämtlich und auch nicht immer auf gleich hohem Niveau erfüllen.

Wie können Unternehmen es dennoch schaffen, den eigenen (strategischen) Einkauf zu Höchstleistungen zu bringen?

3. Den Einkauf durch eine smarte Einkaufsorganisation industrialisieren   

Die Antwort lautet:  Unternehmen müssen den strategischen Einkauf durch Standardisierung und Spezialisierung industrialisieren. Zentrale Voraussetzung hierfür ist, dass die Anforderungen an die strategischen Einkäufer sich in homogeneren Stellenprofilen widerspiegeln. Die entsprechenden strategischen Einkäufer bilden den Kern einer ‚smarten Einkaufsorganisation‘ und sind damit wesentlicher Bestandteil auf dem Weg zum industrialisierten und digitalisierten Hochleistungseinkauf. Zur Einführung einer solchen Organisationsform werden homogene, prozessstufen- und warengruppenübergreifende Aufgabenpakete gebildet und klar definierten und spezialisierten Einkäufer-Rollen zugewiesen. Die unterschiedlichen Rollen sind charakteristisch für eine „smarte Einkaufsorganisation“ und führen zur Steigerung des Spezialisierungsgrades nach der Maßgabe „die Talente auf die richtige Position zu setzen“. Die Aufgabenpakete werden auf vier Rollen verteilt – Informationsmanagement, Methodenentwicklung/Qualitätssicherung,  Assistenz und  Projektmanagement (siehe Abbildung 1).

Abb. 1: Industrialisierung des strategischen Einkaufsprozesses durch Spezialisierung
  • Der Informationsmanager hat zwei Unterrollen, den Datenanalysten und den Supply-Market-Analysten. Während der Datenanalyst unternehmensinterne Informationen erhebt und gezielt analysiert, ist der Supply-Market-Analyst für die Erhebung und Analyse externer Marktdaten verantwortlich. Die Hauptaufgabe beider Rollen ist die Bereitstellung von hochwertigen Informationen zur optimalen Entscheidungsfindung (z.B. für strategische Einkäufer oder die Einkaufsleitung) sowie die Erhöhung der Automatisierung von Abläufen (z.B. vollständig automatisierte P2P-Prozesse).  Durch die Digitalisierung relevanter Schnittstellen im Unternehmen selbst sowie zu Lieferanten und Kunden können Bereitstellung und (automatisierte) Kommunikation von Informationen schneller erfolgen als jemals zuvor.  
  • Der Methodenentwickler/Qualitätssicherer ist für Konzeption und Weiterentwicklung quantitativer und qualitativer Methoden im strategischen Einkaufsprozess, im Lieferantenmanagement sowie im operativen Einkaufs-prozess zuständig. Er ist maßgeblich an der Digitalisierung im Einkauf beteiligt und sollte daher sehr IT-affin sein.
  • Die Rolle der Assistenz ist es, die im Einkauf anfallenden unterstützenden, administrativen Tätigkeiten (z.B. Terminkoordination und Spezifikationspflege) zu erledigen. Diese Tätigkeiten entlasten die strategisch arbeitenden Mitarbeiter und begünstigen Spezialisierungseffekte. Unsere Erfahrung zeigt, dass branchenübergreifend ca. 30% der Aufgaben im strategischen Einkauf administrativer Natur sind. Die Bezeichnung „strategischer Einkauf“ kommt daher in den meisten Unternehmen einem „Etikettenschwindel“ gleich, da strategische Einkäufer bei ihrer Arbeit zum Großteil rein administrative, operative Aufgaben ausführen müssen.
  • Der Einkaufsprojektmanager fungiert als „Scharnier“ nach innen und außen und koordiniert dabei mehrere Schnittstellen, die aufgrund der erhöhten Spezialisierung erforderlich sind. Er ist Hauptansprechpartner für die Inhaber aller anderen Rollen sowie für interne Kunden und Lieferanten. Wichtig ist, dass der Projektmanager die Entwicklung zur Industrialisierung und Digitalisierung des Einkaufs (IDEa) voll mitträgt und in der Lage ist, den daraus folgenden Nutzen im Unternehmen sauber nachzuweisen und klar darzustellen.

Der Nutzen einer solchen Organisationsform liegt in der kompetenten Einführung aufgrund des erhöhten Spezialisierungsgrads der Mitarbeiter. Aus ehemaligen „Warengruppengeneralisten“ werden Spezialisten, die in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich die Besten sind oder sich dahin entwickeln. Eine erhöhte Qualität des Einkaufs und deutlich bessere Arbeitsergebnisse sind die Folge.

Trotz erkennbarer zahlreicher Vorteile der „smarten Einkaufsorganisation“ herrschen in einigen Unternehmen Skepsis und Veränderungsresistenz. Oft sind dem Betriebsrat geänderte Stellenprofile oder gestrichene Stellen aufgrund der Automatisierung ein Dorn im Auge. Die entsprechende Reaktion erschwert die Umstellung auf eine vollständig „smart organisierte“ Einkaufsabteilung zum Teil erheblich. Als Lösung für Unternehmen, in denen das Idealbild der „smarten Einkaufsorganisation“ nicht zum Tragen kommen kann, bietet sich daher ein „sanfteres“ Vorgehen zur Industrialisierung des strategischen Einkaufsprozesses an (siehe Abbildung 2), das in der Regel auch vom Betriebsrat mitgetragen wird, an:

Abb. 2: Reorganisation innerhalb des strategischen Einkaufsprozesses

1. Identifizierung operativer Aufgaben

Der erste Schritt zur Reorganisation bestehender Aufgaben ist die Identifizierung operativer Aufgaben im Rahmen des strategischen Einkaufsprozesses (siehe Abbildung 3).  Dabei versteht es sich, dass einzelne identifizierte Aufgaben besser abzugeben sind als andere (siehe Abbildung 4). Maßgeblich ist das jeweilige Niveau des operativen Einkaufs. Im Rahmen der Identifikation von Aufgaben sollten jedoch zunächst alle Aufgaben gesammelt werden. 

Abb. 3: Identifizierung operativer (administrativer) Aufgaben im strategischen Einkaufsprozess

2. Rausschneiden operativer Aufgaben

Die oben identifizierten und gesammelten Aufgaben sind zunächst im Hinblick auf ihren Übertragbarkeitsaufwand (Wie schnell kann die neue Aufgabenzuordnung umgesetzt werden?) und Entlastungseffekt (wie stark entlastet die neue Aufgabenzuordnung den strategischen Einkäufer?) zu priorisieren. Das Ergebnis lässt sich visuell in einer 2x2 Matrix abbilden (siehe Abbildung 4). Aufgaben mit geringem Übertragungsaufwand und hohem Entlastungseffekt können als erste aus dem Aufgabenkatalog der strategischen Einkäufer „ausgeschnitten“ werden. Hierbei sind warengruppenspezifische Unterschiede zu berücksichtigen. So kann beispielsweise im Verpackungs-bereich der Entlastungsfaktor durch kontinuierliche Aktualisierung der jeweils gültigen Spezifikationen für den strategischen Einkäufer sehr hoch sein, während die gleiche Tätigkeitsabgabe im Bereich Einkauf von Reisedienstleistungen nur wenig entlastet. Hinzu kommt, dass bei idealtypischer Gestaltung der „smarten“ Einkaufsorganisation, die im Rahmen der Einkaufsmarktanalyse anfallenden Aufgaben an ein eigenes Spezialisten-Team (Rolle Supply-Market-Analyst) übergeben werden. Falls keine Supply-Market-Analysten-Rolle existiert, sollte geprüft werden, welche Aufgaben aus diesem Bereich durch operative Einkäufer übernommen werden können. Meist lassen sich zumindest einzelne Einkaufsmarktforschungsaufgaben (z.B. einfache und klar definierte Recherchen und Analysen) problemlos übertragen.

Abb. 4: Alternative Varianten des Transformationsumfangs

3. Neuverteilung operativer Aufgaben

Die oben identifizierten und „ausgeschnittenen“ Aufgaben sind in Zukunft verstärkt durch operative Einkäufer durchzuführen, um den strategischen Einkäufern mehr Freiraum für komplexe strategische Aufgaben zu geben. Dies muss klar kommuniziert und in den Arbeitsalltag integriert werden. Erst dann lassen sich durchschnittlich drei bis zehn Stunden Zeitersparnis pro Woche erzielen. Anders ausgedrückt kann bis zu einem Viertel der wöchentlichen Arbeitszeit eines strategischen Einkäufers allein durch Reorganisation der eigenen Aufgaben „freigeschaufelt“ werden. Selbst bei nur 40 Arbeitswochen pro Jahr ergeben sich dadurch im Idealfall 50 zusätzliche Tage, die zukünftig für strategische Einkaufsaufgaben verwendet werden können. 

Abb. 5: Visualisierung des Zeitersparniseffekts durch Abgabe operativer Aufgaben

Neben der Erzielung von Zeitersparnis sollten auch die Unternehmen, bei denen eine vollständige Umstellung hin zu einer „smarten“ Einkaufsorganisation nicht gewollt ist, weitere Reorganisationsmöglichkeiten prüfen. Hierbei geht es vor allem um die Frage, ob die einzelnen Positionen im Einkauf optimal besetzt sind oder Handlungsbedarf besteht.

Dem in Abschnitt 1 dieses Beitrags erwähnten strategischen Einkäufer für Werkzeuge wurde angeboten, in einem Jahr die Nachfolge des Leiters Qualitätsmanagement anzutreten, für den bisher kein Nachfolger gefunden werden konnte. In dieser Position konnte der Mitarbeiter sein Talent deutlich besser zur Geltung bringen und entwickeln, da es hier vornehmlich um die Prüfung der qualitativen Ausprägung von Produkten ankommt. Bei wichtigen Konditionsverhandlungen im Einkauf durfte der Mitarbeiter weiterhin am Verhandlungstisch sitzen, diesmal jedoch ausschließlich mit der „Qualitätsbrille“, um die bestmögliche Qualität sicherzustellen. Im Team zusammen mit einem neuen strategischen Einkäufer gelang es, die Einkaufskonditionen beim bestehenden Lieferanten bei gleichbleibender Qualität der Produkte im niedrigen zweistelligen Prozentbereich zu verbessern. 

Das Beispiel verdeutlicht die positiven Auswirkungen dieser organisatorischen Maßnahme auf den Unternehmensgewinn (durch zusätzliche Einsparungen im Einkauf), die Senkung von Liquiditätsrisiken (durch bessere Zahlungskonditionen) und ein besseres Image des Einkaufs.