Ein Früherkennungssystem im Einkauf erfolgreich aufbauen

Wie Sie in vier Schritten Ihr Lieferantenportfolio auf Chancen und Risiken überprüfen, reorganisieren und für zukünftige Herausforderungen im Einkauf wappnen können.

Wie Sie in vier Schritten Ihr Lieferantenportfolio auf Chancen und Risiken überprüfen, reorganisieren und für zukünftige Herausforderungen im Einkauf wappnen können.

Ein unvorhergesehener Ausfall eines strategisch wichtigen Lieferanten ist seit jeher der Albtraum jedes Einkäufers, denn dieser Ausfall hat weitreichende Folgen. Stark erhöhte Einkaufspreise bei alternativen Lieferanten, ja sogar Produktionsausfälle, wenn kurzfristig kein alternativer Lieferant qualifiziert oder gefunden werden kann, sind nicht unüblich.
Gerade in den letzten Jahren hat eine Konsolidierungswelle in einigen wichtigen Zuliefermärkten die Getränkeindustrie erfasst.

So hat sich für Brauereien, Wein-, Sekt- oder Spirituosenhersteller die Auswahl Ihrer Glashütten deutlich ausgedünnt. Konnten früher Getränkehersteller noch auf eine Vielzahl potentieller Lieferanten zurückgreifen, decken mittlerweile vier Unternehmensgruppen mehr als 80% des gesamten Marktes für Glasflaschen ab. Hierdurch beginnt sich die Verhandlungsmacht zwischen Glashütten und Getränkehersteller langsam zu verschieben und die Gefahr von Engpässen in dieser wichtigen Warengruppe steigt erheblich.  Zudem ziehen leistungsstarke Zulieferer in der Getränkeindustrie vermehrt Begehrlichkeiten von Investoren auf sich. So hat beispielsweise einer der vier führenden Glasflaschenproduzenten Verallia, der zum französischen Baustoffkonzern Saint-Gobain gehört, jüngst das Interesse mehrerer potentieller Investoren geweckt. Inwiefern sich die strategische Ausrichtung  bei einem eventuellen Firmenverkauf verändert und welche Chancen und Risiken dies für die Getränkeindustrie birgt, werden die nächsten Monate zeigen.

Die aktuelle Beschaffungssituation im Bereich Glasflaschen zeigt exemplarisch für eine Warengruppe, dass ein Früherkennungssystem im Rahmen des Lieferantenmanagements immer wichtiger wird. Nur so können die vielseitigen, dynamischen Risiken - aber auch kurzfristig aufkommende Chancen - frühzeitig erkannt werden, damit der Einkauf rechtzeitig agieren kann. 
Wie aber kann ein effektives Früherkennungssystem im Einkauf von Getränkeherstellern etabliert werden? Welche Schritte stehen an?

Im Überblick wird erkennbar, wie durch eine idealtypische Vorgehensweise in vier Schritten ein geeignetes Früherkennungssystem im Einkauf aufgebaut werden kann.

Abbildung 1: Vorgehensweise Aufbau Früherkennungssystem im Einkauf

1. Schritt: Analyse der Chancen- und Risikosituation

Zum besseren Verstehen der unternehmensinternen Chancen- und Risikosituation sollte zu Beginn eine ABC-Analyse durchgeführt werden. Diese ABC-Analyse erfolgt auf Artikel- und Lieferantenebene. Zudem ist es wichtig, auch Vorprodukte wie die von Lieferanten zur Herstellung eingesetzten Rohstoffe zu erfassen und dieses Einkaufsvolumen genau zu analysieren. Führt man eine ABC-Analyse zum Beispiel für einen Bierproduzenten durch, so sind Glasflaschen gemessen am Einkaufsvolumen die wichtigste Verpackungswarengruppe. Um in einem späteren Schritt eine verlässliche Risikoeinschätzung treffen zu können, muss jedoch auch Transparenz über die wichtigsten, bei der Herstellung von Glasflaschen benötigten Vorprodukte geschaffen werden, wie Altglasscherben, Energie oder Soda. Auf diese Weise können auch indirekte Chancen und Risiken systematisch erfasst und Auswirkungen bei Rohstoffpreiserhöhungen oder -senkungen für die eigenen Produkte erkannt werden. 

Ziel der ABC-Analyse ist es dementsprechend, die wichtigsten Lieferanten, strategisch bedeutsamsten Artikel und Warengruppen sowie die mengenmäßig größten Vorprodukte transparent darzustellen. Das Ergebnis der ABC-Analyse dient als Faktenbasis, um im nächsten Schritt die identifizierten Warengruppen bzw. Artikel in die Kralijc- Matrix einzuordnen. Anhand der beiden Dimensionen, Versorgungskomplexität und Einfluss auf das Betriebsergebnis, können vier unterschiedliche Artikel- bzw. Warengruppentypen gebildet werden:

  • Strategische Artikel/Warengruppen (Beispielhafte Warengruppen:. Glasflaschen insbesondere für Brauereien, Sekt-, Spirituosen- und Weinproduzenten oder Preforms für Mineralwasser-produzenten)
  • Engpassartikel/-warengruppen (Beispielhafte Warengruppen: Aromen und Konzentrate für Herstellern von Soft Drinks und Säften)
  • Hebelartikel/-warengruppen (Beispielhafte Warengruppe: Kartonagen)
  • Unkritische Artikel/-warengruppen (Beispielhafte Warengruppe: (Schrumpf-)Folie zur Verpackung von Six Packs)

Hierdurch können im Anschluss für alle strategisch relevanten Warengruppen und Lieferanten (insbesondere Feld 1-3 in Abbildung 2) die bestehenden Chancen und Risiken und deren Ursachen identifiziert werden. Zu beachten ist bei der Einordnung in die Kralijc-Matrix, das je nach Unternehmensschwerpunkt des Getränkeherstellers sich die Einordnung der Warengruppen individuell unterscheidet.

Abbildung 2: Priorisierung Warengruppen für Früherkennung

Um die Chancen und Risiken zu identifizieren, können unterschiedlichste interne und externe Quellen herangezogen werden, wie aus der Vergangenheit gewonnene Erfahrungswerte, Interviews mit Fachbereichen oder der Fachaustausch mit Lieferanten, Verbänden oder Experten aus anderen Unternehmen. 

Anschließend werden die gesammelten Chancen und Risiken anhand ihrer Ursache kategorisiert; d.h. sie werden zu Chancen-/Risikoarten zusammengefasst, denen die gleiche Situation zugrunde liegt.

Abbildung 3: Exemplarische Übersicht Risikoarten

Die Kategorisierung erfolgt in drei Chancen- bzw. Risikoarten:

  • Geopolitische Chancen oder Risiken sind Gefahren oder Gewinnmöglichkeiten, die unabhängig von einer einzelnen Branche oder einem Lieferanten eine Chance oder ein Risiko sein können, das für alle Unternehmen einer geographischen Region relevant ist. Ein typisches geopolitisches Risiko bzw. eine Chance sind Währungsschwankungen, wie es momentan in der Schweiz durch den Wegfall der Anbindung des Franken an den Euro zu beobachten ist. Für die Einkaufsabteilungen in Schweizer Unternehmen ist dies grundsätzlich eine Chance, günstiger in der Eurozone den eigenen Bedarf zu befriedigen. Da diese Chancen bzw. Risiken für alle Lieferanten der jeweiligen Währungszone bestehen, können sie entsprechend zusammengefasst werden. 
     
  • Branchenspezifische Chancen und Risiken sind für alle Lieferanten einer speziellen Branche relevant. Steigen bspw. die Preise für Granulat, erhöhen sich auch die Kosten für die Herstellung von Preforms. Für Getränkeproduzenten, die einen Großteil Ihrer Produkte in PET-Flaschen abfüllen, birgt dies entsprechend ein indirektes Risiko. 
     
  • Lieferantenspezifische Chancen und Risiken sind individuelle Möglichkeiten oder Gefahren, die nicht aufgrund ihrer Ursache zusammenfassbar sind. Ein solches individuelles Risiko ist beispielsweise die finanzielle Schieflage eines Lieferanten aufgrund von Fehlinvestitionen in der Vergangenheit oder die strategische Neuausrichtung des Lieferanten nach einer Übernahme durch eine Drittpartei.
     
  • Auf der Grundlage der oben beschriebenen Kategorisierung können im weiteren Prozess je Chancen- bzw. Risikoart spezifische Kennzahlen und Indikatoren zur Früherkennung festgelegt und spezifische Chancenergreifungs- bzw. Risikovermeidungsstrategien abgeleitet werden. 
     

2. Schritt: Konzeption einer Systematik zur Chancen- und Risikomessung

Im zweiten Schritt werden auf Basis der identifizierten Chancen und Risiken geeignete Messwerkzeuge definiert, um die Eintrittswahrscheinlichkeit zu erheben. Die Messwerkzeuge setzen sich hierbei idealerweise aus einem Mix von ausgewählten Kennzahlen, Indikatoren und schwachen Signalen zusammen.

Abbildung 4: Messwerkzeuge zur Einschätzung von Chancen und Risiken
  • Von den Messwerkzeugen sind Kennzahlen als die objektivste Messweise besonders verlässlich zur Abbildung individueller Lieferantenrisiken und -chancen. Als Kennzahlen dienen z. B. allgemeine Bonitätsratings, um die Insolvenzwahrscheinlichkeit eines Lieferanten zu ermitteln. Kennzahlen liefern genaue Ergebnisse bei geringem Messaufwand. Oft werden Chancen und Risiken durch Kennzahlen aber erst in einem fortgeschrittenen Stadium identifiziert, so dass Kennzahlen mit anderen Messwerkzeugen kombiniert werden sollten. 

Ein weiteres Messwerkzeug sind Indikatoren. Diese helfen insbesondere, branchenspezifische Chancen und Risiken abzubilden. Als Indikatoren können die Entwicklung von Auftragseingängen, Umsätze oder Gewinne einer oder daraus resultierende Geschäftsklima-Indizes dienen. Indikatoren lassen weniger konkrete Rückschlüsse zu und erfordern einen höheren Messaufwand. Nichtsdestoweniger haben Indikatoren den Vorteil, Chancen bzw. Risiken in einem sehr frühen Stadium identifizieren zu können. 
Der Einsatz von exakten Messwerkzeugen kann durch das Wahrnehmen sogenannter schwacher Signale vervollständigt werden. Ein Beispiel für schwache Signale sind Entscheidungen von Zentralbanken, die einen Trend für die Entwicklung der Wechselkurse aufzeigen. Auch wenn schwache Signale das unschärfste Messwerkzeug sind, ermöglichen diese, insbesondere geopolitische Chancen und Risiken frühzeitig zu erkennen. 
Die notwendigen Informationen, um Chancen und Risiken zu messen, können aus verschiedensten Quellen gewonnen werden. So können Kennzahlen, Indikatoren oder schwache Signale durch Daten aus internen oder öffentlich zugänglichen Datenquellen wie Bilanzen, Veröffentlichungen, Lieferantengesprächen, Messebesuchen, Wirtschaftsklimaindizes oder anderen Statistiken erhoben werden. Auch Daten von externen Dienstleistern, wie Marktforschungsinstituten, oder Informationen aus eingeholten Lieferantenselbstauskünften können zur Risikomessung genutzt werden. 

Sobald die Messwerkzeuge definiert sind, werden die kritischen Ausprägungsschwellen (Trigger) je Messwerkzeug und Chance bzw. Risiko festgelegt. D.h. es werden Wertgrenzen eingezogen, ab denen eine Aktion erfolgen muss. Die möglichen Ausprägungen können in ein Ampelschema eingeteilt werden, um die unterschiedlichen Gefahrenstufen abzubilden.

  • Grün zeigt ein unwesentliches Risiko an und erfordert somit keinen bzw. nur geringen Handlungsbedarf. 
  • Gelb deutet eine latente Gefährdung an. 
  • Erreicht die Ausprägung den roten Bereich, so weist dies auf ein akutes Risiko hin, das sofortige Maßnahmen erfordert.

3. Schritt: Definition von Chancenergreifungs- bzw. Risikovermeidungsstrategien

Nachdem die jeweiligen Schwellenwerte festgelegt sind, werden Risikovermeidungs- und Chancenergreifungsstrategien je Gefahrenstufe und Chancen-/Risikoart erstellt. Eine Risikovermeidungsstrategie enthält aufeinander aufbauende und mit steigender Gefahrenstufe konkreter werdende Reaktionsmuster.

Abbildung 5: Chancenergreifungs-/Risikovermeidungsstrategien

Wie in der Abbildung exemplarisch dargestellt, können bei einem individuellen Lieferantenrisiko, wie der Insolvenz eines Lieferanten, je nach Gefahrenstufe unterschiedliche Risikovermeidungsstrategien entwickelt und angewendet werden.  
Bei einer niedrigen Gefahrenstufe, in der das Ausfallrisiko z.B. anhand des Verschuldungsgrades des Lieferanten als gering eingeschätzt, reicht eine Marktsondierung aus, um Substitutionsmöglichkeiten für die Artikel des Lieferanten zu identifizieren. Falls die Gefahr des Risikoeintritts akut wird, kann auf diese Weise schneller auf alternative Lieferanten oder Produkte zurückgegriffen werden. Steigt der Verschuldungsgrad des Lieferanten, erhöht sich ebenfalls die Gefahrenstufe. Demzufolge wird je nach Gefahrenstufe eine andere definierte Risikovermeidungsstrategie in Form von beispielsweise der Prüfung alternativer Lieferanten bis hin zum Lieferantenwechsel angewendet.  
Die Risikovermeidungsstrategien müssen je Gefahrenstufe und Risikoart für jedes Unternehmen individuell definiert werden, mit dem Ziel, rechtzeitig vor Eintritt des Risikos entsprechende Maßnahmen in die Wege leiten zu können. Bei der Definition von Chancenergreifungsstrategien wird analog vorgegangen; d.h. es werden je Chancenart sowie Ausprägungsstufe der Chancen verschiedene Strategien definiert, um die sich ergebenden Möglichkeiten vollständig auszuschöpfen

4. Schritt: Chancenergreifung und Risikominimierung

Nach Abschluss der ersten drei Schritte kann mit der eigentlichen Chancenergreifung und Risikominimierung begonnen werden. Hierbei spielt neben der eigentlichen Messung und Durchführung der Chancenergreifungs- bzw. Risikovermeidungsstrategie auch das Controlling der unternommenen Maßnahmen eine entscheidende Rolle. Dabei ist es wichtig, den aktuellen Status und die Aktivitäten der jeweiligen Strategie regelmäßig mit den relevanten Fachbereichen abzustimmen und der Geschäftsführung die Ergebnisse transparent zu kommunizieren. Nur so können die Ergebnisse effizient genutzt und zur Weiterentwicklung des Früherkennungssystems verwendet werden.

Abbildung 6: Kreislauf der Chancenergreifung/Risikominimierung

Da sich die Lieferantenmärkte sowie die eigene Unternehmensumwelt im Wandel befinden, ist eine konstante Messung und ständige Überprüfung der identifizierten Chancen und Risiken, definierten Kennzahlen, Schwellenwerte und der entwickelten Strategien unerlässlich. Wie in folgender Darstellung veranschaulicht, handelt es sich bei dem vierstufigen Prozess deshalb um einen Kreislauf, dessen Überwachung von höchster Wichtigkeit ist, um auf alle Geschäftsentwicklungen bestmöglich reagieren zu können.

Fazit:

Durch dieses strukturierte, vierstufige Vorgehen wird es dem Einkauf ermöglicht, systematisch vor neuen Ausfallrisiken gewarnt zu werden und gleichzeitig auf sich bietende Chancen aufmerksam gemacht zu werden.