Vision – und dann? Strategieplanung mit Hoshin Kanri
Stellen Sie sich vor, Sie betreten die Eingangshalle eines DAX-Konzerns und nehmen im Wartebereich Platz. Das Erste, was Sie häufig ins Auge fassen: Sätze wie „Wir sind…“, „Wir wollen…“ oder „Wir werden…“ prägnant und gut sichtbar für jeden platziert - ob eigene Mitarbeiter, Kunden oder externe Dienstleister. Jeder soll das sehen, was Unternehmen heute ihre „Vision“ nennen. Besonders die Big Player haben bereits ein solches Zukunftsbild, in dem die nächsten zehn Jahre in konkrete und fassbare Formeln übersetzt sind. Selbst wenn das nicht in dieser Ausprägung der Fall ist, wissen die meisten Unternehmen ziemlich genau, wo es hingehen soll und wer sie sind. Wo es häufig hapert: Diese Vision in konkrete Ziele zu übersetzen und an Aufgabenpakete zu koppeln. Hier setzt Hoshin Kanri an. Unternehmen wie Toyota oder Procter & Gamble nutzen seit Jahrzehnten das aus der Lean-Lehre stammende Konzept, um ihren Visionen Taten folgen zu lassen. Derzeit führt auch die Industrie-Ikone General Electric dieses System konzernweit ein. Aber warum sollte dieses System nur den Großen überlassen sein?
Woher stammt das Konzept?
Seinen Ursprung hat das Strategiekonzept in Japan Mitte des 20. Jahrhunderts. Nach dem zweiten Weltkrieg steckte das Land - unter der Schirmherrschaft und Unterstützung der Alliierten - seine Kraft in die ökonomische Weiterentwicklung. Besonders erprobte Modelle wie der PDCA-Zyklus (Plan-do-check-act), Prozesskontrolle oder Qualitätspolitik wurden von amerikanischen Managern nach Japan gebracht. In dieser Zeit erscheint auch Peter Druckers „The Practice of Management“, worin er das Konzept des „Management by Objectives“ (MbO) entwickelte.
Aus Studienzeiten oder dem eigenen Unternehmen kennen viele Manager den aus den 1950ern stammenden Ansatz Peter Druckers. Viele Unternehmen setzen den Steuerungsansatz in verschiedenen Ausprägungen ein. Die Japaner kombinierten die gelernten Management-Methoden mit dem MbO-Ansatz und entwickelten ihn fortwährend weiter. 1965 veröffentlicht die Firma Bridgestone Tires einen Bericht mit den erfolgreichsten japanischen Management-Modellen – daraus entsteht das Konzept Hoshin Kanri. Übrigens: HO steht für Struktur oder Methode, SHIN für eine magnetische Nadel, KANRI für Administration. Man könnte den Begriff also als Kompassmanagement übersetzen. Das Konzept ist auch unter den Begriffen Policy Deployment oder Management by Direction bekannt.
Worin unterscheidet sich Hoshin Kanri von MbO?
Ein Fall aus der MbO-Praxis: Ein Unternehmen soll in einem Jahr 10 Prozent mehr Umsatz machen. Damit das funktioniert, bekommt der Verkaufsleiter das Ziel vom Geschäftsleiter, den Umsatz um 20 Prozent zu steigern. Der Verkaufsleiter erhöht das Ziel für seine Mannschaft erneut, damit sein Ziel sicher erreicht wird. Das Ergebnis: Die Mitarbeiter glauben nicht mehr an die Ziele und arbeiten demotiviert an deren Erreichung. Hinzu kommt, dass die Verantwortlichen nicht klarstellen, wie das Ziel erreicht werden soll. Es fehlt der Bezug zu Maßnahmen, die zur Zielerreichung führen. Eine langfristige Orientierung oder Steuerung der Ziele liegt ebenfalls nicht vor. Selbst der Unternehmensleitung ist nicht klar, warum der Umsatz um 10 Prozent gesteigert werden soll. Welches unternehmerische langfristige Ziel soll erreicht werden - Marktführerschaft? Sind 10 Prozent überhaupt ausreichend, um mit dem Marktwachstum mitzuhalten?
Der Kernunterschied zwischen MbO und Hoshin Kanri ist, dass einem Ziel auf gleicher Ebene (N), hier beispielsweise die Geschäftsführung, die Schlüsselmaßnahmen (Break-Through-Projekte) zu deren Erreichung zugeordnet werden. Ebene N stimmt wiederum mit der nächsten Ebene N-1, hier beispielsweise die Leitung einer Fachabteilung, die Schlüsselmaßnahmen ab, da sie von der nächsten Ebene (N-1) als Ziele übernommen werden. Dieser Abstimmungsprozess (auch Nemawashi genannt) ist von besonderer Bedeutung, weil die Ebene N-1 ihre Expertise einbringen kann und entsprechend Zustimmung für die Ziele geschaffen wird. Der gleiche Prozess findet dann jeweils auf der nächsten Ebene statt. Eine Ebene N-2 könnten beispielsweise einzelne Teams in den Fachabteilungen sein. Dabei nimmt die Konkretisierung immer weiter zu.
Das Konzept Hoshin Kanri
Der Hoshin-Kanri-Prozess startet mit der Definition einer klaren Vision. Wo soll das Unternehmen in fünf oder zehn Jahren stehen? Die Vision fungiert als Grundlage für die Master Pläne – also dem Fahrplan, der die Visionen mit den entsprechenden strategischen Zielen und Maßnahmen verbindet. Immens wichtig ist hierbei, dass die Unternehmensleitung sich dazu verpflichtet, konkret auszuformulieren, wo es hingehen soll. Nur wenn die Richtung klar ist, lassen sich alle beteiligten Mitarbeiter davon überzeugen, auch in unruhigem Fahrwasser den Weg mitzugehen. Masterpläne werden für verschiedene Zeithorizonte erstellt. In der Regel gibt es einen 7-Jahres Plan einen 3-Jahresplan und einen 1-Jahresplan.
Im 7-Jahresplan wird eine allgemeine Vision entworfen, wo das Unternehmen nach diesem Zeitraum stehen möchte. Schon konkreter ist der 3-Jahresplan. Er enthält eine Budgetabschätzung z.B. für Investitionen pro Jahr und die Information, zu welcher Zielerreichung diese Investitionen beitragen. Der Plan beantwortet alle Fragen, die von CFO, Geldgebern oder Eigentümern gestellt werden könnten und bietet eine optimale Ausgangssituation zur mittelfristigen Budgetschätzung. Für alle Beteiligten ist klar, warum es wichtig ist, die Investition in der entsprechenden Periode durchzuführen.
Es folgt die Erstellung des detaillierten 1-Jahresplans. Bei der erstmaligen Einführung von Hoshin Kanri wird oft nur dieser eingeführt, weil das schon einen Kraftakt darstellt und zielgerichteter ist, als bisherige strategische Bemühungen. Im 1-Jahresplan werden Vision, strategische Unternehmensziele, Jahresziele und Schlüsselmaßnahmen in Verbindung zu deren Erreichung gestellt. Es werden maximal 10 Schlüsselmaßnahmen als Break-Through-Projekte abgebildet. Der 1-Jahresplan wird weiter konkretisiert. Auf der jeweils nächsten Organisationsebene übernehmen die Beteiligten die Break-Through-Projekte als Ziele und verbinden sie mit noch konkreteren Maßnahmen, die in Folge die Ziele der nächsten Ebene werden.
Die Verbindung zur Vision und den strategischen Zielen wird auf keiner Ebene aufgegeben. Der Mitarbeiter kennt so jederzeit seinen Wertbeitrag für das Erreichen der strategischen Ziele und somit auch zur Vision. Das trägt zur Motivation der Mitarbeiter bei und zeigt den Sinn des „großen Ganzen“ auch im Kleinen auf.
Den Fortschritt überprüfen die Beteiligten in monatlichen Review-Meetings. Hier wird der jeweilige Masterplan mit den aktuellen Status der Break-Through-Projekten besprochen. Zusätzlich verwenden einige Unternehmen ein sogenanntes Bowling Chart, welches die wichtigste Metrik je Projekt mit dem jeweiligen Monatsziel und dem erreichten Werten aufzeigt. Auf diesem Chart ist zu sehen, ob die Projekte einen Effekt auf die Performance haben. Jedes Projekt, das aus dem Zeit- bzw. Kostenrahmen fällt, analysiert der Projektmanager in Form eines sogenannten A3-Reports. Der A3 Report ist ein einseitiger Bericht, der für die Planabweichung anhand des PDCA-Zyklus die aktuelle Situation, Zielzustand, Ursachanalyse für die Abweichung vom Zielzustand, eine Maßnahmenliste zur Rückkehr auf den Zielzustand, eine Erfolgsprüfung und mögliche abzuleitende Standardisierungen aufzeigt.
Wie werden die Ziele und Aktionen effizient und effektiv für alle Ebenen konkretisiert? Einige Unternehmen verwenden hierfür einen Workshop (oft auch Hoshin Event genannt), bei dem der Abstimmungsprozess (Nemawashi) und die Konkretisierung umgesetzt wird. Es erfolgt eine horizontale Abstimmung zwischen den jeweiligen Mitgliedern des Workshops (z. B. Einkaufsleiter mit dem Finanzvorstand) und eine vertikale Abstimmung innerhalb der Abteilung zu den übergeordneten Zielen und Aktionen. Die Teilnehmer bereiten im Vorfeld ihre geplanten Projekte (Aktionen) vor, um Jahresziele und damit die Break-Through-Projekte der übergeordneten Ebene zu erreichen. Zusammen gilt es dann konfliktäre Aktionen aufzulösen, Synergien zu nutzen und Aktionen ohne Bezug zur langfristigen Strategie zu stoppen. Meist sprechen die Teilnehmer nach dem Workshop von einem höheren Fokus in der Arbeit mit den entsprechen positiven Effekten auf Zielerreichung aber auch Arbeitszeiten und Arbeitsqualität.
Die Kaskadierung sollte immer nur soweit erfolgen, wie es nötig ist. Es gibt Aktionen, die müssen und sollten auch nicht bis zur untersten Ebene konkretisiert werden. Beim MbO-Ansatz ist dies nicht immer richtig umgesetzt worden, sodass jeder Mitarbeiter mit einem Bündel an Zielen ausgestattet wurde, obwohl die entsprechenden Maßnahmen auf einer höheren Ebene durchgeführt werden müssen. Manchmal resultiert dies auch aus dem Zwang, eine bestimmte Anzahl an Zielen je Person definieren zu müssen.
Was passiert, wenn sich etwas Maßgebliches ändert? Immer wieder treten Marktteilnehmer mit disruptiven Ansätzen oder Technologien auf, es wird tatsächlich die Vision oder die langfristige Strategie für das Unternehmen geändert oder in der Mitte eines Jahres wird festgestellt, dass die getroffenen Maßnahmen nicht ausreichen. In allen Fällen wäre es ein großer Fehler, nicht darauf zu reagieren.
Eine Möglichkeit, das zu tun ist Hansei (zu Deutsch: Selbst-Reflexion) - ein zentraler Begriff der japanischen Kultur, der bedeutet, dass die Schuld für das eigene Fehlverhalten anerkannt und Besserung gelobt wird. Zur Mitte eines Jahres sollte sich die Unternehmensleitung die Frage stellen, ob etwas geändert werden muss. Ganz praktisch stellt sich das in der Änderung der Master Pläne dar. Es werden agil Projekte gestrichen, geändert und neue hinzugefügt. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Organisation und kommt oft einem vollständigen Richtungswechsel gleich. Anzumerken ist hier jedoch, dass dies sofern die Master Pläne gut sind, nur selten vorkommt bzw. den derzeit in der Ausführung befindlichen Plan betrifft.
Aus Sicht einer westlich geprägten Aktiengesellschaft ist eine 7-Jahresplanung häufig zu weit in die Zukunft gedacht. Die fernöstliche Sicht sieht die Planung auf einem solchen Horizont als notwendig. Es kommt nicht selten vor, dass fernöstliche Unternehmen mit derartigen Planungshorizonten, zunehmend auch aus China, den westlichen Konzernen den Rang ablaufen. Es kann nur dafür geworben werden, eine langfristige Planung und Steuerung vorzunehmen. Hoshin Kanri wäre für viele Unternehmen der westlichen Hemisphäre ein lohnender Ansatz.